Zeitformen / Tempora
Zeitformen lateinisch: Termpora (Einzahl: Tempus) sind das, was häufig unpräzise als "Zeiten" bezeichnet wird. Zeit und Zeitform im Englischen time und tense bedeuten jedoch völlig Unterschiedliches:
- Die "Zeiten" sind einfach die natürlichen Zeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs: Gute Zeiten, schlechte Zeiten, die (schlimme) Vergangenheit, die (angenehme) Gegenwart, die (unsichere) Zukunft, gestern heute, morgen, sechs Uhr morgens, zwölf Uhr mittags, zehn Uhr abends etc.
- Die "Zeitformen" hingegen sind die Verbformen, mit denen wir in unserer Sprache die natürlichen Zeiten ausdrücken, z. B.: "Gestern besuchte ich meine Eltern". "Gestern habe sie besucht." "Gestern hatte ich sie besucht."
Ein Irrtum ist es auch zu glauben, die Zeitformen seien den natürlichen Zeiten fest zugeordnet, die Vergangenheitsform (Präteritum bzw. Imperfekt) sei also für die Vergangenheit zuständig, die Zukunftsform für die Zukunft etc.:
Bekanntlich haben die deutschen Artikel der, die das nichts mit dem natürlichen Geschlecht eines Lebewesens zu tun (der Esel, die Ente, das Pferd). Das ist bei den Zeitformen ähnlich, wie die folgende Tabelle zeigt, die nicht das schulische Schriftdeutsch und Wunschdenken der Deutschlehrer, sondern die reale mündliche Umgangssprache dokumentiert:
Zeitform | Zeit | Beispiel | Gemeint ist |
Plusquam- perfekt | Vorvergangenheit | Gestern hatte ich ihn angerufen. | ... bevor ich noch etwas Anderes tat. |
Vergangenheit | Ich hatte Ihnen doch 10 € gegeben! | Ich habe ihnen doch 10 € gegeben! |
Perfekt | Vorvergangenheit | Bevor wir ankamen, haben wir uns unterwegs einen Big Mac gekauft. | hatten wir uns einen Big Mac gekauft. |
Vergangenheit | Am Samstag sind wir nach B. gefahren. | Auch: Am Wochenende fuhren wir ... |
Präteritum bzw. Imperfekt | Vorvergangenheit | Bevor wir ankamen, kauften wir uns unterwegs einen Big Mac. | hatten wir uns einen B. M. gekauft. |
Vergangenheit | Am Wochenende fuhren wir nach B. | Am W. sind wir nach B. gefahren. |
Gegenwart | Ich wollte Dich fragen ... | Ich will Dich fragen, frage Dich ... |
Zukunft | Wann fuhr der Zug morgen früh? Bekamen Sie das Cordon Bleu? | Wann wird der Zug fahren? Bekommen Sie das Cordon Bleu? |
Präsens | Vergangenheit | Als ich hereinkam, sehe ich plötzlich ... | sah ich plötzlich ... |
Vergangenheit bis Zukunft (allg. G.wart) | Ich arbeite bei Mercedes. | schon in der Vergangenheit, auch in Zukunft, vielleicht auch im Moment |
aktuelle Gegenwart | Ich schreibe einen Brief | Ich schreibe ihn jetzt im Moment. |
Zukunft | Morgen fahren wir an die Küste. | Morgen werden wir fahren. |
Futur I | Gegenwart | Wie alt wird sie sein? | Wie alt ist sie jetzt wohl? |
Zukunft | Wir werden morgen abreisen. | Wir reisen morgen ab. |
Futur II | Vergangenheit aus Zukunftsperspektive | Gegen 5 Uhr werden wir es geschafft haben. | Gegen 5 Uhr werden wir mit der Arbeit fertig sein. |
Vergangenheit | Er wird mich übersehen haben. | Er hat mich wohl übersehen. |
Daß man z. B. eine Vergangenheitsform für die Zukunft und eine Zukunftsform für die Vergangenheit benutzt, ist merkwürdig, aber real. Die Tempus-Zeit-Zuordnung im Deutschen ist also, wie man sieht, alles andere als einfach kaum jemand hält dieses "Chaos" in seiner eigenem Muttersprache für möglich, solange er keine Beispiele gehört hat. Wer aber solch komplexe Zeitverhältnisse erst einmal akzeptiert, der wird auch für die Komplexität der Zeitformen anderer Sprachen Verständnis haben. Diese Komplexität erklärt auch, warum nicht zu erwarten ist, daß die Zeitformen der Muttersprache hinsichtlich ihrer komplexen Bedeutungen mit denen einer anderen Sprache deckungsgleich sind: Jede Sprache hat eben ihr eigenes "Chaos".
Anfänger in einer Fremdsprache neigen dazu, die vertrauten Zeitformen ihrer Muttersprache auch in der Zielsprache zu suchen und, wenn sie sie finden, ihre Bedeutungen gleichzusetzen ihnen also dieselben natürlichen Zeiten bzw. Bedeutungen zuzuordnen wie in der Muttersprache. Daß das nicht funktionieren kann, dafür sollte die Tabelle Verständnis wecken und zugleich die Grundlage legen für das Verständnis des englischen Tempus-Systems.
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