Grammatik(en) – Grammar(s)
Grammatik? Ungern – aber doch, klar: braucht man ja! Was sein muß, muß sein, also quälen wir uns da durch. Also: Was gibt's denn da, was ist empfehlenswert, was gut verständlich? (z.B. für den mittleren Schulabschluß – Verlag? Autor? Preis?) Nun, eine solche Empfehlung soll diese Seite gerade nicht geben, statt dessen aber erklären, was Grammatik eigentlich bedeutet, welche Arten und Herangehensweisen es gibt und welche Schwächen käufliche Grammatiken haben. Fangen wir mit der Wortbedeutung an: Unter Grammatik versteht man:
- eine sprachwissenschaftliche Disziplin, die die Sprachstruktur, die Funktionen sprachlicher Formen, beschreibt;
- die Sprachstruktur der Sprache im Gegensatz zu ihrem Wortschatz (Lexikon);
- im weiteren Sinne eine bestimmte wissenschaftliche Beschreibung einer Sprache durch einen Autor oder eine sprachwissenschaftliche Richtung, auch in Buchform: deskriptive Grammatik;
- ein Lehrwerk mit verbindlichen Regeln für den "richtigen" Sprachgebrauch: normative bzw. präskriptive Grammatik.
1. Deskriptiv – präskriptiv
Daß die Grammatik erklärt, wie man die Wörter einer Sprache und sogar welche man einsetzt und wie man sie warum verändert, ist nicht neu: Ohne Grammatik, also nur mit Wörterbuch, kommt man bekanntlich nicht weit. Kaum bekannt aber ist der Unterschied zwischen einer wissenschaftlichen, also deskriptiven ('beschreibenden') Grammatik und einer präskriptiven ('vorschreibenden'). Und dieser ist durchaus wichtig und sogar für den Lernerfolg entscheidend. Wie also sieht eine deskriptive bzw. präskriptive Grammatik aus?
- Eine deskriptive Grammatik ist eine umfängliche sprachwissenschaftliche Untersuchung der Struktur einer Sprache, und sie kann als Buch, aber auch in Form vieler Einzelbeiträge veröffentlicht werden. Das Ziel ihrer Autoren ebenso wie ihrer Kommentatoren und Kritiker ist Perfektion: Die Sprache soll so beschrieben werden, wie sie sich zum aktuellen Zeitpunkt tatsächlich darstellt. Angesichts der Komplexität menschlicher Sprache(n) ist dies keine leichte Aufgabe, weshalb es immer wieder neue Lösungsansätze gegeben hat und gibt. Diese Mühe ist allerdings selten Selbstzweck: Die korrekte Beschreibung einer Sprache soll es in der Regel ermöglichen, auch eine präskriptive Grammatik, also eine Lerngrammatik zu schreiben:
- Eine gute präskriptive Grammatik hat zwei Merkmale:
- Sie gibt dem Lernenden für sein sprachliches Handeln in jeder Situation zuverlässige Anweisungen, und diese sind so genau formuliert, daß ihre genaue Befolgung nur richtige Sätze in der Zielsprache produziert.
- Sie reduziert die große Menge der deskriptiv gewonnenen Informationen "didaktisch" auf ein vertretbares Maß: für Anfänger, für Fortgeschrittene etc.
Die beiden Grammatiktypen sind keineswegs zwei Seiten derselben Medaille, wie am Beispiel der Steigerung der Adjektive (Comparison) leicht demonstriert werden kann. Diese wird auch in vielen Schulgrammatiken nach diesem deskriptiven Muster erklärt:
Es gibt im Englischen zwei Steigerungsarten:
- Die germanische Steigerung durch Anhängen von er bzw. est gilt für:
- einsilbige Adjektive
- zweisilbige Adjektive mit den Endungen er, le, ow, some und y
- zweisilbige Adjektive, die auf der zweiten Silbe betont werden etc.
- Die romanische Steigerung durch Voransetzen von more bzw. most gilt für:
- zweisilbige Adjektive, die auf der ersten Silbe betont werden
- zweisilbige Adjektive, die nur prädikativ verwendet werden
- drei- und mehrsilbige Adjektive
- Partizipien, unabhängig von der Silbenzahl.
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Viele (ehemalige) Schüler(innen) kennen nur diese Vermittlungsweise – ebenso wie jene Bedienungsanleitungen etwa eines DVD-Recorders, die alles vom ersten bis zum letzten Menüpunkt inklusive aller Funktionen akribisch beschreiben. Das Problem ist nur: Wer einen Fernsehfilm aufnehmen will, interessiert sich nicht stundenlang für den atemberaubenden Funktionsumfang des Gerätes, er (bzw. sie) will nur wissen, welche der Funktionen bzw. Knöpfe er (sie) in welcher Reihenfolge aktivieren muß. Dasselbe gilt für die Grammatik:
Wenn der Lernende mit einem zweisilbigen Adjektiv konfrontiert ist, will er alles Wichtige über die Steigerung von zweisilbigen (nicht von ein- oder dreisilbigen) Adjektiven erfahren. Eine an den Lernbedürfnissen orientierte präskriptive Grammatik sieht also bei dem gewählten Beispiel (wiederum verkürzt dargestellt) so aus:
Es gibt im Englischen zwei Steigerungsarten:
- die germanische Steigerung durch Anhängen von er bzw. est und
- die romanische Steigerung durch Voransetzen von more bzw. most.
Die Verwendung der Steigerungsarten hängt von der Silbenzahl ab:
- Einsilbige Adjektive sind germanisch zu steigern: tall, taller, tallest.
- Zweisilbige Adjektive sind ebenfalls germanisch zu steigern, wenn sie
- auf er, le, ow, some oder y enden: happy, happier, happiest
- auf der zweiten Silbe betont werden: polite, politer, politest.
- Zweisilbige Adjektive sind jedoch romanisch zu steigern, wenn sie
- auf der ersten Silbe betont werden: careful, more careful, most careful
- nur prädikativ verwendet werden: to be afraid, more afraid, most afraid
- Partizipien sind: boring, more boring, most boring.
- Drei- und mehrsilbige Adjektive sind ebenfalls romanisch zu steigern: beautiful, more beautiful, most beautiful.
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Die erste, deskriptive Darstellungsweise ist typisch für voluminöse wissenschaftliche Grammatiken, die die Struktur einer Sprache in Gänze beschreiben. Sie findet sich aber leider auch in Schulgrammatiken, dort allerdings mit reduziertem Umfang: Der Schüler soll je nach Klassenstufe nicht überfordert und der "Rahmen" (d. h. Seitenzahl und Preis) der Grammatik nicht gesprengt werden.
Diese "didaktische Reduktion" ist völlig in Ordnung und daher mindestens ebenso typisch für präskriptive Grammatiken, die sich jeweils genau an dem Problem orientieren, das ein Lernender hat: Wer gelernt hat, daß z. B. die Steigerung von der Silbenzahl abhängt, wird diese ermitteln und dann nachlesen, welche Regeln und Ausnahmen für diese Silbenzahl gelten.
Es gibt aber auch noch eine Steigerung: eine Kombination aus deskriptiver und präskriptiver Grammatik – eine Grammatik also, die zunächst exemplarisch sprachliche Phänomene dokumentiert und den Lernenden dann bei der Hand nimmt, um mit ihm zusammen die zu befolgenden Regeln zu entdecken. Diese induktive Methode erfordert auf Seiten der Autoren und Verlage wie auch der Lehrer und Schüler die größte Mühe, ist aber letztlich die erfolgreichste.
2. Fehler
Fehler? Kann denn eine Grammatik fehlerhaft sein? Gar eine Schulgrammatik, die von Fachleuten verfaßt, vom Englischlehrer empfohlen und vom Kultusministerium abgesegnet wurde? Ja, sie kann; und viele Grammatiken sind tatsächlich fehlerhaft. Gemeint sind hier keine Interpunktions- und Rechtschreibfehler (diese gehören seit der sog. Rechtschreibreform quasi zur Grundausstattung deutscher Lehrbücher), sondern Falschaussagen zur Grammatik der englischen Sprache. Um es auf den Punkt zu bringen: Wert sich genau an das hält, was in Englisch-Grammatiken steht, spricht und schreibt in einigen Bereichen falsches Englisch. Zwei Beispiele:
Present Perfect, examples:
- I have lived here all my life / for 20 years / since 1986.
- He has learnt (and now we know) the Present Perfect.
- I have seen the thief!
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Das Present Perfect drückt aus:
- einen Zustand, der von der Vergangenheit bis in die Gegenwart fortdauert.
- gegenwärtige Ergebnisse bzw. Folgen vergangener Geschehnisse;
- gegenwärtige Erinnerungen an Vergangenes.
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since & for, Beispiele:
- I have lived here since 1996.
He has known her since March.
- I have lived here for 10 years.
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since & for, Regeln:
- since bezeichnet einen Zeitpunkt, seit wann eine Handlung oder ein Zustand andauert.
- for bezeichnet einen Zeitraum.
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Beide Darstellungen finden sich so oder ähnlich in vielen Grammatiken, und beide sind völlig falsch:
- Das englische Present Perfect entstand einst tatsächlich, um die gegenwärtige Relevanz vergangener Ereignisse auszudrücken. Mit dem heutigen Gebrauch hat das jedoch nichts mehr zu tun: Nicht die Wirkung eines vergangenen Ereignisses entscheidet über den Gebrauch dieser Zeitform, sondern allein der fehlende Bezug zu einer bestimmten Zeit (also Zeitbestimmung) der Vergangenheit. Zwar kann in einem Present-Perfect-Satz auch eine Wirkung zum Ausdruck kommen, umgekehrt erfordert eine Wirkung aber keineswegs das Present Perfect.
Zwei Beispiele: "Timmy isn't in – we have taken him to hospital." "Timmy isn't in – we took him to hospital last night." Die Wirkung, nämlich daß Timmy nicht im Hause ist, ist dieselbe, die Zeitbestimmung im zweiten Satz aber erfordert das Past. Ein Vergleich: Ein Linienbus ist zweifellos ein Verkehrsmittel, ein Verkehrsmittel ist aber nicht notwendigerweise ein Linienbus.
Völlig abstrus (aber zum Glück in Grammatiken auch nur selten zu finden) ist die Regel, gegenwärtige Erinnerungen an Vergangenes seien mit dem Present Perfect auszudrücken: Wer sich danach richtet, macht z. B. in einem Bericht einen Tempus-Fehler nach dem anderen.
Das Present Perfect ist ein geradezu klassisches Beispiel für die Verwechslung von deskriptiver und präskriptiver Grammatik bzw. Diachronie und Synchronie (also historischer und auf den aktuellen Sprachstand bezogener Linguistik). Ähnliches läßt sich übrigens für das Perfekt im Deutschen sagen.
- Im Zusammenhang mit dem Present Perfect haben Deutsche oft das Problem, since und for auseinanderzuhalten, da das Deutsche in beiden Fällen seit verwendet. Die Aussage, der Gebrauch der beiden englischen Präpositionen hänge von einem genannten Zeitpunkt oder Zeitraum ab, ist jedoch völlig unsinnig, da jede Zeit (selbst eine einzige Sekunde) auch ein Zeitraum ist: 1996 etwa bestand aus 366 Tagen, und ′seit der Steinzeit′ ist natürlich mit "since the Stone Age" zu übersetzen. In Wirklichkeit verlangt das Present Perfect die Präposition since, wenn die genannte Zeit vorbei ist, und die Präposition for, wenn sie andauert; als Konjunktion ist für ′seit′ immer since zu verwenden.
Fazit
Die dokumentierten Fehler sind nicht die einzigen, einen weiteren findet man etwa in den sogenannten Signalwörtern, die für die Unterrichtung von 10jährigen ganz praktisch sein mögen, vor allem aber signalisieren, daß viele Autoren von Grammatiken sich etwa den Unterschied zwischen einer deskriptiven und einer präskriptiven Grammatik nie klargemacht haben und vor allem nie getestet haben, was die postulierten Regeln in der Praxis bewirken. Daraus ist allerdings nicht zu schließen, daß diese Autoren kein Englisch können: Sprachkompetenz erwirbt man nur anfänglich durch die bewußte Anwendung von Regeln, später aber zunehmend durch Orientierung an Sprachmustern und Automatisierung.
Wer eine Lerngrammatik kaufen möchte und selbst entscheiden darf, welche es sein soll, der sollte sich vorrangig für eine präskriptive Grammatik entscheiden. Als Test bietet sich die dokumentierte Steigerung der Adjektive an. Das zweite Kriterium sollte die Darstellung der so wichtigen Zeitformen der Vergangenheit sein: Wenn die Grammatik z. B. etwas von "Wirkung" oder von "Folgen" oder "Wichtigkeit" des Present Perfect für die Gegenwart erzählt, ist sie fehlerhaft. |