Mündliche Prüfungen · Oral Exams
Was ist eigentlich eine mündliche Prüfung? Und: Wozu dient eine mündliche Prüfung? Viele Schüler und Lehrer werden auf diese vermeintlich banale Frage einfach sinngemäß antworten: Eine mündliche Prüfung wird gesprochen statt geschrieben mit dem Ziel, die Endnote festzustellen, wenn die schriftliche Prüfung mangelhaft oder ungenügend ist oder keine Klarheit bringt. Danach ist also eine mündliche Prüfung einfach eine verkürzte "Nachprüfung", die aus Gründen der Zeitersparnis auf die Schriftform verzichtet bzw. den schriftlichen (und notfalls gerichtsverwertbaren) Prüfungsbeleg auf das Protokoll beschränkt. Ist sie das wirklich?
Eine mündliche Prüfung bietet dem Prüfer einerseits die Möglichkeit, dem Prüfling noch unbekannte Fragen zu stellen und spontane Lösungsstrategien zu beobachten und zu beurteilen; andererseits kann er dem Kandidaten durch gezielte Impulse aus der Klemme bzw. weiterhelfen: Eine Lösung "mit Hilfe" ist besser als gar keine!
In einem Sprachfach wie Englisch kann und muß man zudem einwenden, daß die mündliche Form nicht nur das Medium der Prüfung ist, sondern auch ihr Gegenstand: Eine Sprache wird, wie der Name schon andeutet, vor allem gesprochen, folglich ist es mindestens legitim, auch die gesprochene Sprache zu testen, also das Hörverstehen, die Aussprache, die Fähigkeit, spontan auf eine Äußerung zu reagieren eben die mündliche Kommunikationskompetenz. Gerade für eine Sprache ist die mündliche Prüfungsform also wohlbegründet und manchmal sogar verpflichtend.
Mündlich oder gemischt?
Schaut man sich mündliche Sprachprüfungen in der Praxis an, stellt man jedoch fest, daß der Grad der Mündlichkeit unterschiedlich ist: Üblicherweise erhalten die Prüflinge zur Vorbereitung einen Text, der noch durch einige Fragen ergänzt wird. Die Prüfung beginnt also mit Leseverstehen und (zumindest stichwortartig) schriftlicher Beantwortung vorformulierter schriftlicher Fragen. Das aber bedeutet: Der inhaltliche Aspekt bleibt bei der Schriftform, "nur" der sprachliche Aspekt bedient sich weitgehend der mündlichen Form ("weitgehend" deshalb, weil Antworten auf schriftliche Fragen während der Vorbereitungszeit oft schriftlich vorformuliert und später mündlich wiederholt oder gar im schlechtesten Fall abgelesen werden).
Eine ausschließlich mündliche Prüfung müßte einen während der Prüfung gesprochenen oder vom Band bzw. von der CD abgespielten Hörverstehens-Text oder eine Abbildung als Vorlage verwenden oder auf eine solche Vorlage völlig verzichten und sich auf ein Gespräch zu einem bekannten Thema beschränken. Eine Prüfung ohne Vorlage birgt allerdings den Nachteil, daß die Leistung eines Prüflings so noch schwieriger zu beurteilen und protokollieren ist.
Prüfungen mit einer schriftlichen Textvorlage verzichten zwar auf die reine Mündlichkeit, haben sich aber dennoch bewährt. Einige Aspekte sollte der Prüfer beachten:
- Angesichts einer Vorbereitungszeit von nur 20 Minuten darf der Text nicht zu lang sein; von der Ausnahme abgesehen, daß er nur eine Gesprächsgrundlage liefern soll, darf er aber auch nicht zu kurz sein: Je nach Schwierigkeit des verwendeten Wortschatzes und Themas ist etwa eine halbe Seite angemessen. Eine Zeilennumerierung empfiehlt sich, damit sich später Prüfer wie Prüfling leicht auf Textpassagen beziehen können.
- Der Text muß im Regelfall alle Noten ermöglichen, d. h. er darf weder für ein "sehr gut" zu leicht noch für ein "ungenügend" zu schwer sein. Texte, die sich thematisch an den Unterrichtsstoff anschließen, haben den Vorteil, daß sie dem Prüfling zumindest inhaltlich vertraut sind und kein neues, unbekanntes Vokabular abverlangen. Problematisch kann hingegen das Lieblingsthema eines Teilnehmers sein: Von seiner Begeisterung hingerissen, könnte er die Textvorlage links liegenlassen und nur von seinem Hobby schwärmen mit bösen Folgen ...
- Direkt unterhalb des Textes kann ein Vokabelteil einige Wörter erklären, die dem Prüfling vermutlich unbekannt sind. Der Prüfer muß jeweils abwägen, ob sich ein Wort leicht aus dem Kontext erschließen läßt oder ob sein Nichtverstehen das Textverständnis behindern würde; ist letzteres zu befürchten, sollte das Wort erklärt werden. Dies sollte zwar möglichst englisch geschehen, wichtige Wörter müssen aber ins Deutsche übersetzt werden, will man den Prüfungserfolg nicht mutwillig durch ein einziges unverstandenes Wort gefährden.
- Im Regelfall sollten die ersten Prüfungsfragen schon auf dem Prüfungsblatt stehen, und die Zeit ihrer Bearbeitung ist in die zwanzigminütige Vorbereitungszeit einzukalkulieren. Die Bearbeitung hat einen doppelten Vorteil: Sie kann dem Prüfling vor Prüfungsbeginn Sicherheit vermitteln, und sie ermöglicht einen erleichterten Einstieg, der anschließend eine Progression der Schwierigkeit in Form spontan zu beantwortender Fragen zuläßt. Mehr als drei vorformulierte Fragen empfehlen sich im Hinblick auf den Zeitrahmen selten.
- Die weiteren, mündlich zu stellenden Fragen sollte der Prüfer natürlich ebenso sorgfältig vorbereiten und auf seinem Prüfungsblatt notieren. Abweichen kann er davon immer noch. Das gilt auch für Fragen, die sich vom Text ab- und den Meinungen und Erfahrungen des Prüflings zuwenden.
Prüfungsverlauf
| | | | Transfer-Phase: zum Thema, nicht Text |
| | | Neue, unbekannte Fragen zum Text | |
| | Vorformulierte Fragen zum Text | |
| Lesen eines Textabschnitts | |
Begrüßung, Vorstellung | Mündliche Prüfung: fünfstufiges Verlaufsmodell |
Prüfungsteams bestehen üblicherweise aus dem bzw. der Vorsitzenden, dem/der Prüfer/in und dem/der Protokollant/in. Vor der eigentlichen Prüfung hat der Kandidat 20 Minuten Zeit, sich mit einer Textvorlage und "Schmierpapier" (manchmal auch mit einem einsprachigen Wörterbuch) vorzubereiten. Eine mündliche Englischprüfung sollte aus etwa fünf aufeinander aufbauenden Phasen bestehen, die eine Progression des Schwierigkeitsgrades realisieren:
- Die Begrüßung und die gegenseitige Vorstellung von Teilnehmer und Prüfungsteam ist ein Gebot der Höflichkeit: Der Prüfling sollte wissen, mit wem er/sie es zu tun hat, und die Team-Mitglieder sollten den Namen des Schülers hören, falls sie ihn nicht ohnehin schon gelesen haben. Sinnvoll ist auch eine Frage nach dem Befinden und eventuellen Problemen: Das kann die Anspannung etwas abmildern. Es ist aber z. B. schon vorgekommen, daß ein Teilnehmer eine andere als die vorgesehene Prüfungsvorlage erhalten hat, und es hat sich auch schon als notwendig erwiesen, einen Teilnehmer zum Arzt zu schicken, bevor er/sie die eigentliche Prüfung begann. Wenn sich nicht gerade ganz ernsthafte Probleme ergeben, sollten die Gespräche von Anfang an ausschließlich in Englisch stattfinden, damit der Prüfling auch später nicht in Versuchung gerät, aus der Zielsprache auszubrechen.
- Wenn sich keine Probleme ergeben haben, kann die eigentliche Prüfung mit dem Lesen eines kurzen Textabschnittes beginnen. Dieses Lesen ist nicht als Formalie zu verstehen, sondern hat folgende Funktionen:
- Ein Prüfling, der vielleicht lange nicht mehr Englisch gesprochen hat, gewöhnt sich durch das laute Vorlesen wieder ans Sprechen und liest, wenn der Prüfer den Textteil geschickt gewählt hat, eine für die Beantwortung der Fragen wichtige Passage.
- Das Prüfungsteam kann sich während des Vorlesens "einhören" und auf die Aussprache einstellen. Nicht nur sehr schlechte Schüler sind manchmal auf Anhieb schlecht zu verstehen, sondern auch solche, deren Aussprache im Ausland (USA, Afrika, Indien etc.) geprägt wurde.
- Schließlich kann sich das Prüfungsteam auch ein erstes Urteil über die Aussprache bilden, wenn diese auch sicher nicht das wichtigste Kriterium der Sprachkompetenz ist.
- Nach etwa drei Minuten sollte der Teilnehmer mit dem Beantworten der vorformulierten Fragen beginnen. Da er/sie diese gedanklich und auch mit Notizen vorbereiten konnte, sollte flüssiges Sprechen möglich sein. Prüfungskandidaten sei empfohlen, von Anfang an möglichst viel zu reden und diese ersten Fragen umfassend zu beantworten, ohne sich inhaltlich von ihnen zu entfernen. Sie vermitteln so einen souveränen Eindruck im Umgang mit dem Text und machen Nachfragen und andere Äußerungen seitens der Prüfer überflüssig.
- Auch die nächsten, mündlichen Fragen sollte der Prüfer vorbereitet haben. Für den Prüfling sind sie neu, also muß er/sie unvorbereitet, d. h. spontan antworten und so aus dem Gedächtnis Textkenntnis beweisen, was einen höheren Schwierigkeitsgrad als Phase 3 darstellt.
- Die letzte und theoretisch schwierigste ist die Transfer-Phase: Jetzt geht es nicht mehr um den Text, sondern um sein Thema. Ohne die Fesseln des Textes ist der Prüfling nun aufgefordert, seine Erfahrungen und Meinungen zum Thema zu äußern. Ein Text über Tourismus kann Anlaß sein, nach Urlaubszielen und -erlebnissen zu fragen; ein Zeitungsartikel über Konflikte mit den Eltern oder Partnern oder der Schule bietet die Grundlage, nach Einstellungen und Lösungsmöglichkeiten zu fragen etc.
Wenn die Prüfungszeit abgelaufen ist und das ist oft früher als erwartet wird der Prüfling für eine kurze Beratungszeit vor die Türe geschickt. Anschließend erfährt er vom Prüfungsteam die Note der mündlichen Prüfung.
Verhalten und Bewertung
Eine mündliche Prüfung wird bereits in ihrem Verlaub bewertet: Mit jeder richtigen oder falschen oder ausbleibenden Antwort verfestigt sich das Bild zu einer Note. Zum Schluß also noch ein paar Tips für das Verhalten der beiden Parteien und die Beurteilung:
- Der Prüfling tut gut daran, eine möglichst aktive Rolle zu spielen und sich bereitwillig auf die Prüfungssituation einzulassen: Wem man "die Würmer aus der Nase ziehen" muß, der vermittelt nicht den Eindruck großer Kommunikationskompetenz.
- Zu bewerten ist nicht vorrangig die Gedächtnisleistung: Kurzes Nachlesen im Text ist als normal zu akzeptieren, häufige Nachfragen und Impulse ("Look at line x!") sind hingegen Hilfestellungen, die Bestnoten verhindern.
- Vor allem in der vierten Phase kann es vorkommen, daß ein Prüfling sich im Text zeitaufwendig auf die Suche nach der richtigen Antwort begibt oder solange sinniert, bis eine peinliche Spannung entsteht, die die weitere Prüfung aussichtslos erscheinen läßt. So weit sollte es im Interesse des Prüflings nicht kommen: Die Prüfer sollten rechtzeitig Frage oder Aspekt wechseln, und der Prüfling sollte kundtun, daß er im Moment nicht antworten könne. Natürlich bringt eine unbeantwortete Frage Minuspunkte, aber sie gefährdet nicht die gesamte Prüfung und nicht einmal unbedingt die angepeilte Note.
- Gute Lehrer lauern nicht auf das Versagen des Prüflings, sondern hoffen auf seinen Erfolg. Um so mehr wurmt es sie, wenn ein Schüler z. B. ausgerechnet penetrant das s der 3. Person Singular Präsens vergißt oder im Present statt im Past antwortet. Allzu leicht geben sie dann der Versuchung nach, den Unterricht der vergangenen Monate in der Prüfung fortzusetzen: Vielleicht kapiert der Prüfling es ja doch noch!? Gegen die Korrektur eines wichtigen Fehlers ist im Prinzip nichts einzuwenden, wenn zu erwarten ist, daß er im weiteren Prüfungsverlauf ausbleibt und das Bild der Prüfung nicht weiter trübt. Fehlerkorrekturen bergen aber auch zwei gefährliche Nachteile: Kommen sie mehr als zwei- oder dreimal vor, können sie unsichere Prüflinge leicht zu ihrem Schaden irritieren und ihren Redefluß und ihren Mut hemmen, weitere, vermutlich ebenso falsche Äußerungen zu wagen. Wenn der Prüfling hingegen aus Nervosität oder mangels grammatischer Sicherheit den Fehler trotz Ermahnung und Stirnrunzeln immer wieder macht, verfestigt sich ein noch negativeres Bild als das, das ohne Korrektur entstanden wäre.
- Solange es in der dritten und vierten Phase um den Text geht, sind Meinungen und Wissen des Prüflings zum Thema tabu: Wenn er abschweift, muß der Prüfer eingreifen. In der Transferphase hingegen sind Meinungen, Erfahrung und Wissen gefragt. Zu bewerten sind sie allerdings nicht: Eine Sprachprüfung prüft ausschließlich die Sprachkompetenz ...
- Für die Notenfindung während der Beratung gilt: Eine mündliche Sprachprüfung testet vorrangig die mündliche Kommunikationskompetenz, nicht so sehr grammatische Korrektheit, geschliffenen Ausdruck etc. Das heißt natürlich nicht, daß die Grammatik gar keine Rolle mehr spielt, zumal auch sie das Verstehen beeinflußt. Zu fragen ist: Würde der Prüfling mit seiner Sprachleistung im Gespräch mit einem "native speaker" bestehen? Und wie? Insofern setzt die mündliche Prüfung die Akzente etwas anders als die schriftliche.
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